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Nie mit Algebra

Wolfgang Niedecken


Nachdem deine Nabelschnur gekappt war, im sechsten Jahr nach dem Krieg,
die Stadt zum größten Teil noch flachlag, doch in hoffnungsvollem Licht,
rein in ein Land, das sich verstümmelt hatte, einen Kontinent im Sinn,
wurdest du geboren, kleiner Jude, dank Opa's unehelichem Kind.

Da war ein Krämer, der herzensgut war, doch leider ohne Stolz,
seine zweite Frau, die oft betont hat, was alles sie anders wollte,
eine Burg, in der - wie du jetzt weißt - nie Kaiser und Könige residierten,
ein Stadttor bloß, längst überflüssig, wie die, die nie drin logiert!
Eine lange Straße, Geschäfte, eine Kirche mit Hochaltar,
sogar einem Schrein,
mit Beichtstühlen - violett verhangen - Prozessionen, die vorbei
an Metzgereien zogen, im Schaufenster Madonnen aufgebaut,
hast dich gefragt, wo Schweinsfüße und Sülze wohl in der Zeit verstaut waren.

Du hattest es nie mit Algebra, mit Formeln, Zahlen,
nur was passiert ist, hat dir wie einem Elefanten
so unauslöschlich seinen Stempel eingebrannt,
daß du oft meinst, du hättest jedes Detail behalten.

Und es wurde eine Brücke gebaut wie ein Nierentisch über den Fluß gespannt,
eine Schieferspitze kam auf den Kirchturm, der für Volk und Führer abgebrannt.
Damit die Kirchtumspitze jetzt heilblieb, bekamen wir wieder eine Armee,
deine Onkel hatten da keine Zweifel: "Der Russe wäre sonst in drei Tagen hier."

Die Schule am Hafen und deine Freunde, Rübenkraut und Margarine
hättest - glaube ich - alles darum gegeben, damals so wie die zu sein.
Auch den Kakaogeruch auf dem Schulhof, bitter, schwer, vergißt du nie
und fällt das Wort "Fabrik" heute - stimmt, denkst du direkt an Frauen, die
von einer Sirene im Takt gehalten, hier Pralinen abgepackt,
für ein Trinkgeld,
der Profit wurde von ganz anderen eingesackt,
doch ehe der Groschen fiel, was ablief, wurdest du in das Heim gesteckt,
in dem Sadisten Kinder quälten, fast zu spät hast du's gecheckt.

Ein Speisesaal, ein Sportplatz, der als Exerzierplatz hoch umzäunt war,
ein gesunder Geist steckt in einem gesunden Körper wurde dir,
bis du's einsahst, eingebläut.
Es gab Khakihemden für die Starken, Urlaubssperre für den Rest,
und Spott und Hohn für den ganz Kleinen, der noch mal in sein Bett genässt.

Bist nie da weggelaufen, nicht mit zehn, nicht mit zwölf, nicht mit vierzehn,
die Ohren steif, wie dein Vater, dem, egal in welchem System
das war er anzubieten hatte eine Mark brachte.
Soll und Haben hat gezählt,
mit Prügelstrafe und Bibelsprüchen wurdest nicht nur du zum Mann gequält.
Es war was mit Kuba, was dir eine zeitlang so brutal um den Schlaf geraubt,
da in der Hölle, in der man Kindern nicht mal mehr Tränen erlaubt.
An alles andere hatten sie dich nach und nach schon lange gewöhnt,
auch wenn du manchem Halbgott hier die Pest an den Hals gegönnt hättest.

Zum Hass erzogen, längst erloschen war das hoffnungsvolle Licht,
zum Oben puckeln, unten treten, zum Parieren, doch vielleicht mußtest du da durch,
um du zu werden - na klar - es gab auch Sonne
doch die ist ausführlich schon beschrieben, diese Sonne kennt wohl jeder schon,
weil die Erinnerung meistens Fallen stellt, die golden ausschmückt
mit dem, was einigermaßen o.k. war, das andere bleibt verstaubt,
weil es so bequem ist zu vergessen, routiniert ist man darin
hier in dem Land, obwohl mir scheint, daß Menschen überall so sind.

Jetzt schreibst du Bilder, singst Gedichte, Lieder malst du dann und wann,
über deine Kindheit, das danach, und jetzt, schließlich und endlich dann
von dem, was auf uns zukommt, denkst nach, wie man daran drehen kann
und oft erschrickst du dich beim Rasieren: "Dieses Kind sieht aus wie ein Mann!"

Wolfgang Niedecken

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